Eskapismus – weil die Welt keine Pausentaste hat

Ich weiß gerade nicht, wie ich die Welt aushalten soll, ohne mich zwischendurch abzuwenden. Jedes Mal, wenn ich Instagram öffne, springt mir ein Stück Realität entgegen, das mich wütend, ängstlich oder betroffen zurücklässt. Kriege, Krisen, Kommentare, die schlimmer sind als die Nachrichten selbst. Und dazwischen: Werbung für Periodenunterwäsche (weil meine Zyklus-App meine Daten verkauft hat – aber das ist eine andere Geschichte). Ich scrolle, ich schlucke, ich schließe die App und schon sitzt mir die Welt quer im Hals. Es ist, als würde sich das Karussell schneller und schneller drehen, während ich versuche, auf einem Bein stehenzubleiben.

Die letzten Tage war ich krank. Körperlich, aber auch innerlich ausgelaugt. Mir wurde klar: Ich kann mich nicht mehr mitdrehen. Dieses Karussell aus Empörung, Angst, Erwartungen – es ist Zeit für mich, auszusteigen. Nicht für immer, nur kurz. Ein Sicherheitsstopp.

Schon immer ist das mein Reflex: Wenn mir die Realität zu laut wird, flüchte ich mich in Geschichten. Nicht in Wellness-Tempel oder Detox-Retreats – in Hörspiele. Ich höre dann Sherlock Holmes, gesprochen von Christian Rode und Peter Groeger. Beide sind 2018 verstorben, aber in meinen Kopfhörern leben sie weiter. Ihre Stimmen sind wie ein vertrauter Ort, an dem die Welt noch in Ordnung ist. Ein Fall, eine Ermittlung, ein logischer Schluss. Keine Kriege, keine Headlines. Nur Deduktion.

Ich höre Die drei Fragezeichen. Die Stimmen von Oliver Rohrbeck, Jens Wawrczeck und Andreas Fröhlich sind meine Notfallmedizin. Mein Safe Space. Mein mentales Kamillentee-Trinken. Wenn meine Gedanken zu wild, zu unruhig, zu verknotet sind, dann höre ich eine Folge nach der anderen. Beim Aufräumen, Kochen, Einkaufen, Bahnfahren.

Ich kenne die Folgen in- und auswendig, weiß genau, wann welche Tür knarrt, wann Watson „Mein lieber Holmes“, sagt oder Peter, „Den schnapp’ ich mir!“ ruft. Diese Verlässlichkeit hat etwas Tröstendes. Die Welt da draußen ist Chaos, aber in meinem Hörspiel herrscht Logik. Ordnung. Gut und Böse sind klar zu unterscheiden.

Wenn ich dann wieder etwas mehr Energie habe, lese ich. Stundenlang. Nächte lang. Ich verliere mich in Geschichten, bis ich wieder weiß, wer ich bin. Seit ich in der ersten Klasse das Lesen gelernt habe, ist dies mein liebster Eskapismus. Beim Lesen kann ich für ein paar Stunden jemand anderes sein. Eine Hufflepuff in einer Welt voller Drachen und Magie. Die Verbündete eines berühmten belgischen Detektivs. Oder eine Außenseiterin, die mit Pfeil und Haltung das System zum Einsturz bringt. Ich jage Mörder, Schätze oder den Sinn des Lebens. Ich verschwinde in anderen Leben, anderen Zeiten, anderen Dramen.

Ich liebe Buchreihen, in denen ich zurückkommen darf. Zu den gleichen Menschen, den gleichen Orten, zu Insiderwitzen und Situationskomik. Es hat etwas Beruhigendes, dass ich die Eigenheiten und Abgründe der Figuren bereits kenne. Und wenn ich das Buch schließe, bin ich wieder hier, aber ruhiger. Sortierter. Den Kopf ausgelüftet im Reich der Geschichten.


Eskapismus klingt ein wenig, als würde man heimlich aus dem Fenster klettern, um kurz der Wirklichkeit zu entkommen. Und ich finde, das trifft es relativ gut. Eskapismus bietet eine Pause von der Schwerkraft des Alltags. Keine Verdrängung, sondern Selbstschutz. Mein Gehirn im Energiesparmodus. Mein Herz in Quarantäne.

Böse Zungen könnten jetzt sagen, ich verrate die Realität, wenn ich abtauche. Man darf sich nicht rausnehmen, wenn man privilegiert ist. Man sollte informiert bleiben, engagiert, wach, laut. Und das stimmt. Aber was bringt mein lautes „Wachbleiben“, wenn ich innerlich langsam ausbrenne? Wenn mein Mitgefühl am Limit läuft? Wenn meine Gedanken nicht mehr sortiert bekommen, was gerecht, was wichtig, was überhaupt noch zu bewältigen ist?

Zwei Stimmen kämpfen in meinem Kopf um Aufmerksamkeit. Die eine flüstert: Bleib dran, du darfst nicht wegsehen. Die andere sagt: Du darfst durchatmen, auch wenn andere es gerade nicht können. Beide haben recht. Beide machen mir Schuldgefühle.

Doch ich lese, weil ich sonst implodiere. Weil ich kurz wieder glauben will, dass Geschichten sich auflösen, dass Gerechtigkeit möglich ist, dass Menschen sich verändern können. Ich lese, weil ich eine Pause brauche von all dem, was unlösbar scheint. Ich muss mein Herz an fiktive Welten hängen, während die echte gerade Kopf steht – um emotional zu überleben. Ich nenne das nicht Realitätsflucht. Ich nenne das Regeneration.

Eskapismus ist für mich keine Flucht, sondern eine Art innere Rettung. Eine Atemmaske, wenn die Luft zu dünn wird. Wenn alles zu laut, zu nah, zu viel ist. Ein strategischer Rückzug in Geschichten, Stimmen, Seiten, die mir Halt geben. Und ja, vielleicht bleibe ich da gerade ein bisschen länger, als ich sollte. Aber wenn draußen alles brennt, ist es unter Umständen gar nicht so dumm, mich in Sicherheit zu bringen, bis ich wieder atmen kann. Nicht um wegzuschauen, sondern um überhaupt weiter hinschauen zu können.

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